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Mensch und KI - Was werden wir tun?

Seit etwa fünf Jahren wird in der Arbeitswelt intensiv über künstliche Intelligenz debattiert. Beim Blick auf die Technik wird noch immer zu wenig auf die künftige Rolle des Menschen abgestellt. Eine Zwischenbilanz des Erwartbaren mit Fokus auf die menschlichen Herausforderungen einer zusehends digitalisierten Zukunft.


Zum erwarteten Durchbruch künstlicher Intelligenz bei der Automatisierung wissensbasierter Arbeit schrieb der Bestseller-Autor Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus von 2017: „Menschen laufen Gefahr, ihren ökonomischen Wert einzubüßen, da Intelligenz und Bewusstsein zusehends unabhängig voneinander werden.“ Was er damit meinte? Vollkommen unabhängig davon, ob es in Zukunft zur Entwicklung künstlicher Intelligenzen kommen mag, die über ein dem Menschen vergleichbares Selbstbewusstsein verfügen: Bereits heute zeichnet sich ab, dass menschengemachte KI durchaus in der Lage ist, komplexe Ziele zu verfolgen und zu erreichen und dabei in ihren Leistungen auch Menschen immer häufiger zu übertreffen.


Automatisierte Computersysteme übernehmen also Aufgaben, deren Durchführung bis vor Kurzem noch an den Einsatz menschlicher Intelligenz gebunden schien – und zwar solcher Intelligenz, die nur auf der Basis fachspezifischer Ausbildung und regelmäßiger Übung entsteht. Bereits im letzten Jahrhundert zwar hat die Informationstechnologie viele einfache Rechen- und Arbeitsschritte automatisiert und zuvor zeitaufwändige, ja von Menschen unleistbare Berechnungen oder die Zusammenführung gigantischer Datenbestände ermöglicht. Dennoch wirkten die in Einzelbereichen zu Höchstleistungen fähigen Rechen- und Produktionssysteme des 20. Jahrhunderts in vielen Alltagssituationen noch erstaunlich ‚dumm‘, und zwar deshalb, weil ihnen jede Lernfähigkeit abging, also die Fähigkeit, auch mit nicht spezifischen unerwarteten (unstrukturierten) Daten umzugehen.


Dies änderte sich mit der technischen Umsetzbarkeit des an sich schon länger bekannten Konzepts künstlicher neuronaler Netze (KNN). KNN empfinden emergente (also in ihrer Entwicklung prinzipiell offene) Prozesse der Informationsverarbeitung und Mustererkennung nach, die zuvor organischen Nervenzellen vorbehalten waren. Aus der Anwendung dieses Verfahrens entstanden die spektakulären Erfolge der vergangenen Jahre, die etwa KI-Systeme zu unschlagbaren Meistern anspruchsvoller Strategiespiele wie Schach und Go machten oder zuletzt sogar handfeste wissenschaftliche Fortschritte z.B. in der Molekularbiologie versprachen: Die KI Alpha Fold etwa, kann erstaunlich zielgenau aus dem Gen-Code der DNA die vielfach gefalteten Strukturen von darin codierten Proteinen prognostizieren, was zuvor nur nachträglich mit hochaufwändigen Laborexperimenten erreichbar war.

Allerdings zeigten sich kürzlich bei der Vorstellung einer überarbeiteten Version der KI neben erstaunlichen Erfolgen immer noch Mängel: Einige der kompliziertesten Proteinfaltungen konnte die Software nicht sicher vorhersagen, so dass weiterhin ein wirklich verlässliches universelles Prognosewerkzeug und damit auch ein klarer Anwendungshorizont für die technisch an sich beeindruckende KI fehlt.



Von der Theorie in die Praxis


Und nicht zuletzt darum geht es, will man die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf die Arbeitswelt der nächsten Jahrzehnte einigermaßen seriös abschätzen. Schließlich gibt es genügend technologische Entwicklungen, die in ihrer Bedeutung für die Praxis vollkommen überschätzt wurden oder deren Auswirkungen sich zumindest um viele Jahrzehnte verzögerten. Letzteres ist im Fall der künstlichen Intelligenz, der spätestens seit den 1950er Jahren mehrmals enorme Anwendungspotenziale in naher Zukunft prophezeit wurden, ohne Zweifel der Fall. Ob womöglich auch eine grundsätzliche Überschätzung der Bedeutung der Technologie vorliegt, lässt sich noch nicht abschließend sagen.


Klar ist allerdings jetzt schon, dass trotz des exponentiellen Wachstums der technologischen Basis von KI in Form von verfügbarer Rechenkapazität die Technik nicht umgehend in allen grundsätzlich denkbaren Feldern Anwendung finden wird. Das liegt nicht nur an simplen Schnittstellenproblemen (also den Übergängen zwischen der neuen Technologie und den bisher eingesetzten Systemen), sondern insbesondere an der menschlichen Seite: In nahezu allen potenziellen Anwendungsfeldern trifft künstliche Intelligenz auf gewachsene sozio-technische Systeme, also ein komplexes Zusammenspiel von Menschen und bereits im Einsatz befindlicher Technik.

Aus diesem Grund wird längst nicht jede prinzipiell einsatzreife KI umgehend in die Anwendung überführt. Dabei geht es neben eher ‚harten‘, Hindernissen wie rechtlichen Regelungen oder hoher Kosten in vielen Fällen auch um ‚weiche‘ soziale Faktoren, die den Einsatz von KI verlangsamen oder sogar verunmöglichen: Die Zusammenarbeit mit Technik erfordert von jeher Vertrauen und die grundlegende Bereitschaft zur Veränderung bewährter Abläufe. Diese Bereitschaft entsteht aber bei den meisten Menschen nicht durch das bloße Vorhandensein technologisch innovativer Systeme, sondern wächst bestenfalls aus langjähriger Erfahrung mit diesen.


Automatisierungsprozesse ergreifen darum gewöhnlich nicht alle Teile einer Volkswirtschaft gleichzeitig, sondern starten in einzelnen Branchen und greifen dann allmählich auf weitere Bereiche über. Dabei kann es auch zu kurzfristigen Stockungen und sogar langfristigen Blockaden kommen. Die jährlichen Umfragen des Branchenverbands bitkom zum Status des Einsatzes von KI spiegeln das recht gut wider: Nach einem Aufwärtstrend der vergangenen Jahre kam es 2022 erstmals zu einer einem Rückgang der geplanten KI-Projekte und sogar einer Zunahme der Zahl von Unternehmen, für die KI aktuell „kein Thema“ ist, auf immerhin 64 Prozent, also fast zwei Drittel. Natürlich kann es sich auch um eine durch die Auswirkungen von Corona-Epidemie und Ukrainekrieg erzeugten Konjunkturdelle handeln – aber, dass von einer flächendeckenden und rapiden Adaption von KI in Unternehmen aller Branchen bei einem aktuellen Stand von 9 Prozent noch nicht die Rede sein kann, ist offensichtlich.

Verzerrte Automatisierungsdebatten


Für eine langfristige strategische Orientierung jenseits solcher Felder, in denen sich der KI-Einsatz bereits jetzt aufdrängt, weil sein wirtschaftlicher Nutzen bereits erwiesen ist, ist es daher sinnvoll, die in den meisten Bereichen noch bevorstehende Automatisierungswelle etwas genauer und vor allem in Bezug auch auf ihre nicht technischen Aspekte differenziert in den Blick zu nehmen.


Bei der Nahbetrachtung von Modernisierungs- und Automatisierungsprozessen wird der Fokus häufig auf das gelegt, was diese Prozesse unmittelbar antreibt: die neuen Technologien. Das ist kein Fehler, sondern ergibt sich nahezu automatisch (!) aus der Natur der Sache. Aber auch bei der Betrachtung sozialer und weiterer Folgen von Automatisierungsprozessen steht nicht selten doch wieder die Technik im Mittelpunkt. Die Überlegungen und Debatten kreisen dann meist darum, was diese Technik uns wegnimmt: Bestimmte Arbeitsaufgaben und damit bestimmten Menschen ein damit verbundenes Einkommen und/oder beruflichen Status. Und der Menschheit als solcher nicht weniger als die direkte und unmittelbare Kontrolle über die automatisierten Arbeitsabläufe.


Beides kann verständlicher Weise als bedrohlich empfunden werden. Tatsächlich werden Automatisierungsprozesse sowohl in davon betroffenen Organisationen als auch gesellschaftsweit fast immer von Sorgen und Ängsten begleitet und beeinträchtigt. Im Mittelpunkt steht dabei das Thema des Kontrollverlusts das mit dem modernen Bild des Menschen als eines selbstbestimmten Individuums in Konflikt gerät.

Die Maschinisierung und Automatisierung von Abläufen durch den Menschen scheint stets zwingend mit dem Wechselspiel von Macht und Ohnmacht, von Herrschaft und Entmündigung verbunden zu sein, wie es schon Goethe in der bekannten Ballade vom Zauberlehrling beschrieb, welcher durch die von ihm wachgerufenen Mächte schließlich selbst in Bedrängnis gerät.


Technischer Fortschritt eröffnet menschliche Entwicklungschancen


Hinter der jeweils für sich richtigen und berechtigten Auseinandersetzung sowohl mit den technischen Voraussetzungen und Herausforderungen eines Automatisierungsschritts einerseits als auch den Risiken eines fehlgeleiteten, den Menschen entgleitenden Prozesses andererseits geraten leider oftmals die langfristigen Potenziale und Herausforderungen aus dem Blick, die sich spätestens nach der erfolgten Automatisierung von Arbeitsaufgaben einstellen.

Im Fall der Automatisierung wissensbasierter Arbeit zeichnen sich diese bereits recht klar ab, nimmt man sich einmal die Zeit für eine eingehendere Betrachtung. Da auch in der aktuellen, KI-getriebenen Automatisierungswelle zunächst ganz vorwiegend Routineaufgaben automatisiert werden, wie die Bearbeitung von Anträgen, die Beantwortung gängiger Kundenanfragen und klar strukturierte analytische Aufgaben jeder Art wie medizinische Diagnosen oder Vertragsprüfungen, tritt ein letztlich absehbarer Effekt ein.



Die für den Menschen verbleibenden Herausforderungen verlagern sich aus dem Feld komplizierter (in ihren Abläufen klar strukturierter) Aufgaben in das Feld komplexer Aufgaben. Das sind solche Probleme, zu denen vorab keine klaren Lösungsstrategien bekannt sind, weil die enthaltenen Problemelemente in Wechselwirkungen zueinander stehen, die sich nicht eindeutig in Gesetze oder Regeln fassen lassen. Komplexe Probleme erscheinen nicht selten rätselhaft und erzeugen Überraschungen.

Sie können technischer oder wissenschaftlicher Natur sein. In den meisten Branchen und Arbeitskontexten werden sich komplexe Probleme allerdings insbesondere im Feld des sozialen Miteinanders stellen. Mitarbeiter, die bisher Standardfragen von Kunden beantwortet haben, werden in einem KI-gestützten Arbeitsumfeld vermehrt mit konfliktbehafteten Reklamationen oder spezifischen Anwenderfragen konfrontiert sein. Spezialisierte Fachkräfte wiederum werden weniger mit der Analyse von Daten als deren Anwendung und Kommunikation in fachfremden Feldern zu tun bekommen.

Somit werden Menschen einerseits absehbar von teils lästigen Routineaufgaben befreit, sind aber teilweise mit der Herausforderung konfrontiert, sich in Kompetenzfeldern zu bewähren, in denen sie bisher weniger oder sogar keine Übung besitzen. Das kann, aber wird nicht in jedem Einzelfall als positive Entwicklung und Autonomiegewinn erfahren werden.


Grundsätzlich dürfte sich wie durch jeden bisherigen Automatisierungsschritt auch durch die KI-getriebene Maschinisierung von Verwaltungs- und Analyseaufgaben der menschliche Handlungsspielraum erweitern, allein indem zeitliche Spielräume für die Beschäftigung mit solchen Aufgaben frei werden, die wohl auch im 21. Jahrhundert nur Menschen gut und erfolgreich erledigen können. Der beschriebene Wandel von Arbeitsaufgaben weg von komplizierten hin zu komplexen Problemen dürfte darum kaum aufzuhalten sein.


Organisationen und Unternehmen werden sich darauf einstellen (müssen). Fähigkeiten wie das Denken in komplexen Systemen, dem Aufbau und der Pflege von Vertrauen sowie die Einübung in funktionale Formen der Kommunikation (vgl. zu diesen Qualifikationen das Konzept MENSCHpunktNULL des Arbeitslabors) über Fach- und Abteilungsgrenzen werden damit zu essenzieller Qualifikationen aller Arbeitenden auf allen Hierarchieebenen.


Die mittlerweile vielleicht etwas abgedroschene Phrase, dass es inmitten aller technikgetriebenen Modernisierung und Automatisierung nun erst recht auf den Menschen ankommt, trifft insofern tatsächlich zu. Nur wenn diese gleichzeitige Chance und Herausforderung KI-getriebener Automatisierung nicht erkannt und ergriffen wird, droht womöglich eine Fremdbestimmung durch Technik, auf jeden Fall aber ein Scheitern an den Aufgaben einer erfolgreichen digitalen Transformation.


Die richtige Frage lautet […] nicht: „Was wird passieren?“, sondern: „Was werden wir tun?“ Eric Brynjolfsson

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