Digitalisierung und New Work – zwei Schlagworte, die jeder Führungskraft beinahe täglich begegnen. Für viele stellt sich heute die Frage, ob die klassischen Managementpraktiken noch zeitgemäß sind. Es geht hier also in aller Bescheidenheit um die Zukunft des Managements.
Wie so oft hilft bei Überlegungen zur Zukunft ein Blick zurück. Die Frage lautet also: Hat das, was wir heute Management nennen, in den ersten gut 100 Jahren seines Bestehens eine logische Entwicklung genommen und kann man darauf aufbauend ahnen, was als nächstes kommt?
Wäre Management eine Naturwissenschaft, wäre eine Antwort auf diese Frage nicht unbedingt trivial, aber bestimmt wesentlich einfacher. Grob gesagt pflegen sich Naturwissenschaften - durchaus auf unterschiedlichen Theoriegebäuden aufbauend – in einem schrittweisen und nach vorne gerichteten Prozess zu entwickeln. Es kann daher zu jedem Zeitpunkt ein Status Quo definiert werden, welche Fragen zufriedenstellend theoretisch gelöst sind und auf welche Grundlagenergebnisse die Wissenschaft in ihrer weiteren Forschung aufbauen kann. Insgesamt hat man es also mit einem schrittweise aufgebauten, stetig mächtiger werdenden Theoriegebäude zu tun, dessen Fundament aus einem Set von allgemein anerkannten Gewissheiten besteht.
Der Praktiker – zum Beispiel ein Physiker, der eine bemannte Rakete zum Mond bringen muss - orientiert sich also bei der Berechnung von Umlaufbahnen etc. an diesen wissenschaftlichen Gewissheiten und kann so erfolgreich seine Ziele verwirklichen. Dabei hat er in der Regel keine Auswahl zwischen unterschiedlichsten Denkmodellen und Theorieansätzen, sondern wendet die von allen geteilte Theorie an.
Ganz anders verhält es sich in der Managementwissenschaft. Hier ist im Laufe der letzten über 100 Jahre kein Wissenschaftsgebäude entstanden, sondern vielmehr eine Siedlung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gebäude (Theorien, Denkmodelle usw.), die zwar lose miteinander verbunden sind, aber nicht aufeinander aufbauen wie im Falle der Naturwissenschaften. Noch dazu ergeben sich aus unterschiedlichen Ansätzen durchaus verschiedene, manchmal inkompatible Handlungsempfehlungen.
Entsprechend anders muss auch der Praktiker – hier der Manager – vorgehen. Bei der Führung von Organisationen stellt sich das Problem, welche der mannigfaltigen Theorieansätze in der jeweiligen Zeit- und Praxissituation relevant bzw. passend sind – ein Problem, das der oben beschriebene Physiker so nicht kennt. Der Manager schöpft also aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die ihm die Theorie zur Verfügung stellt. Es existiert aber keine „Supertheorie“, die die Grundlagen zur Verfügung stellt, um in genau dieser Situation das optimale Ergebnis zu erzielen.
Man könnte nun ausführlich darüber nachdenken, was nun diese Auswahl in der täglichen Praxis beeinflusst. Diese Frage ist in der Managementtheorie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Begrifflichkeit der „Management-Mode“ bereits ausführlich untersucht worden. Hier soll aber lediglich festgestellt werden, dass auch in der Disziplin „Management“ eine Entwicklungslogik existiert, die aber anders als in den Naturwissenschaften ganz erheblich davon abhängt, was die Praxis als relevant betrachtet. Man könnte also sagen, die Dynamik der Entwicklung geht nicht von den Wissenschaften allein aus, sondern ganz maßgeblich von der Praxis.
Entwicklungsstufen des Managements
Welches sind nun die Entwicklungsstufen? Soweit der Autor das übersehen kann gibt es eine Reihe von Vorschlägen, aber keine von allen geteilte „Entwicklungsgeschichte“ des Managements bzw. der Managementlehre. Wir wollen darauf aufbauend einen 4-stufigen Entwicklungsprozess vorschlagen:
(1) Die Geburtsstunde des Phänomens „Management“ liegt irgendwo in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts: F.W. Taylor entwickelt seine Konzepte des „Scientific Managements“. Selbstverständlich wurde schon vorher „gemanagt“ (bzw. geführt). Aber mit Taylor erscheint der erste „Manager“, der sich systematisch und mit wissenschaftlichen Methoden den Unternehmensabläufen zuwendet. Taylor und insbesondere Henry Ford, der die Konzepte aufgreift und in der Praxis im großen Stil umsetzt bzw. weiterentwickelt, prägen die erste Phase in der Historie des Managements ebenso wie die der gesamten Industriegeschichte. Die heute gängigen Begriffe Taylorismus und Fordismus geben beredtes Zeugnis von ihrem Einfluss auf die damalige Praxis.
(2) Die von Taylor geprägte technische und prozessorientierte Grundströmung betrachtet den Menschen bzw. den Mitarbeiter im Produktionsprozess wie eine Maschine. Dieser Ansatz ist definitionsgemäß auf dem sozialen und psychologischen Auge blind. Selbstverständlich waren sich die Manager der Unternehmen damals (genauso wie heute) dieser Verkürzung bewusst. Sie sahen die Defizite oder besser die ungenutzten Potentiale dieser Sichtweise durchaus. In einer neuen Entwicklungsphase des Managements greift die Praxis daher Konzepte auf, die sich auf der Basis der wissenschaftlichen Ergebnisse der sogenannten Mayo-Group-Experimente im „Human-Relations-Ansatz“ materialisieren. Durch diese Ansätze stehen plötzlich Phänomene wie Motivation, Führungsverhalten und Organisation (im Sinne von Aufbauorganisation) im Mittelpunkt des Interesses. Auch wenn das erste Orgchart bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftaucht, erst jetzt wird der Entwicklung verschiedenster Organisationsformen (z.B. die Divisionalstruktur in den 30er Jahren) und auch Managementmodelle wie z.B. „Management by Objectives“ (entwickelt in den 50er-Jahren) hohe Aufmerksamkeit in der Praxis geschenkt und im großen Umfang umgesetzt.
(3) Die nächste Phase bzw. Grundströmung beruht ebenfalls auf einer „Entdeckung“. Wurde in der zweiten Phase der Mitarbeiter in den Fokus genommen, ist es in der dritten Phase der Kunde bzw. die Märkte. Auch hier kann man nicht davon sprechen, dass dem Kunden bzw. dem Absatzmarkt bis zu diesem Zeitpunkt keine Beachtung geschenkt wurde. Natürlich haben Verkaufs- und Vertriebsabteilungen immer schon Methoden entwickelt, diese Unternehmensfunktion zu stärken. Aber erst das Aufkommen von wissenschaftlichen Konzepten (z.B. zum Marketing-Ansatz) gepaart mit der gesamtwirtschaftlichen Machtverschiebung vom Produktanbieter zum Nachfrager bzw. Konsumenten auf den Märkten lösen in den 60er-Jahren eine Anzahl von Managementinnovationen aus. Für die Führung von Unternehmen gehörte es im Zuge dieser Entwicklung zum guten Ton, systematisch Methoden und Konzepte (z.B. Marketingmix) einzuführen. Diese Entwicklung reicht bis spät in die 80er Jahre, in denen die Einführung von marktanalytischen Methoden des Strategischen Managements (z.B. die BCG-Matrix oder die Analyse der Porterschen Wettbewerbskräfte) ihre Hochphase erreicht.
(4) Die Grundströmung, die dann einsetzt, ist ebenfalls wieder eine Reaktion auf neue ökonomische Bedingungen. Durch die fortschreitende Globalisierung und den stetig intensiveren internationalen Wettbewerbsdruck kommen in den 80er- und 90er-Jahren insbesondere Unternehmen unter Kostendruck, die in reiferen Märkten aktiv sind. Auf der anderen Seite werden die Unternehmen aufgrund ihrer internationalen Kontakte und Aktivitäten auf Vorgehensweisen in anderen Ländern aufmerksam. Unter anderem inspiriert durch die Erfahrungen mit Führungssystemen und Prozessen der japanischen Automobilindustrie werden neue Konzepte zur Optimierung der Ablauforganisation populär. Unter dem Sammelbegriff „Business-Process -Reengineering“ bricht damit die nächste Modewelle über die Unternehmen herein. Ob mit der Zielsetzung, die Qualität der Produkte zu verbessern (z.B. TQM, EFQM) oder Kosten bzw. Zeit zu sparen (z.B. Lean Management, JIT), das Management ist fokussiert auf die Kernaufgabe, Prozesse zu optimieren. In der Folge wird dieser Trend durch die fortschreitende Digitalisierung weiter verstärkt. Sind die Prozesse systematisch analysiert, dokumentiert und „re-engineered“, lassen sich umfassende Teile relativ einfach digital abbilden und damit Produktions- und auch Verwaltungsprozesse gut automatisieren.
Aktuell ist diese Grundströmung grundsätzlich wohl noch immer vorherrschend. Viele Unternehmen haben die Potentiale einer konsequenten Digitalisierung bis heute nicht ausgeschöpft. Die Frage, die sich für die Zukunft stellt, ist nun, welche Grundströmung des Managements in den nächsten Jahrzehnten auf die umfassende Re-Engineering- und Digitalisierungswelle folgen wird. Welche Konzepte werden für das Management des 21. Jahrhunderts von überragendem Interesse sein?
Wie geht es weiter?
Wie bereits erwähnt sieht sich das Management bis heute durch die fortgesetzte Digitalisierung und die Entwicklung immer mächtigerer KI-Systeme vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Allerdings stellt sich im Jahr 2022 die Frage, ob die „Vollendung“ der prozessuralen Optimierung und Automatisierung tatsächlich als Innovationsprogramm des Managements im 21. Jahrhundert ausreicht. Oder ob aktuell nicht bereits Entwicklungen absehbar sind, die es sinnvoll erscheinen lassen, von einer neuen Grundströmung zu sprechen.
Doch zunächst zur Digitalisierung, die durch die aktuellen Krisen massiv beschleunigt wird. Für das Management ist dies auf zwei grundsätzliche Weisen relevant, die man auseinander halten sollte: Erstens wird der Gegenstand des Managements digitalisiert – mit anderen Worten: die Prozesse in den verschiedenen Funktionsbereichen. Und zweitens werden selbstverständlich auch die Managementprozesse selbst digitalisiert.
Beginnen wir mit der Digitalisierung der Organisationsprozesse, die das Management - will es technologisch auf der Höhe bleiben - massiv vorantreibt. Dies hat nicht nur für die betroffenen Mitarbeiter, sondern auch für das Management sowohl hinsichtlich des Arbeitsinhalts als auch hinsichtlich der benötigten Managementkapazität massive Folgen.
Es fallen beispielsweise im großen Umfang Kontrollmechanismen bzw. –aufgaben weg, da diese bereits in der Software eingebaut sind. Besaß man früher oftmals das Entscheidungsrecht in letzter Instanz, so ist es im Prinzip heute die Software, die entscheidet. Das bedeutet, dass das mittlere Management nur noch wenig Gestaltungsspielraum besitzt. Dienten schon früher manche Positionen im mittleren Managements oftmals nur der Aggregation von Informationen aus den unteren Ebenen ohne genuine Wertschöpfung, so sind Positionen dieser Art nun in vielen Fällen vollkommen verzichtbar.
Aber auch die inhaltlichen Aufgaben des Managements ändern sich radikal. Alle Aufgaben, die einen hohen Bezug zum operativen Routinegeschäft aufweisen, werden kaum noch eine große Rolle im Tagesablauf eines Managers der ersten und zweiten Ebene spielen. Auch das Thema „Mitarbeiterführung“ ist in einer Organisation mit weitgehender Automatisierung von Routinearbeiten ein komplett anderes. Die deutlich kleineren Belegschaften werden in den Verwaltungen nur noch Mitarbeiter beschäftigen, die sich in erster Linie der Weiterentwicklung bestehender bzw. der Neuerfindung neuer Prozesse, Strukturen und Geschäftsmodelle widmen. Diese Mitarbeiter haben hinsichtlich Führung und persönlicher Weiterentwicklung selbstverständlich komplett andere Anforderungen als Mitarbeiter in Routinejobs wie wir sie heute kennen.
Die Digitalisierung betrifft das Management und seine Prozesse aber auch selbst. Es ist z.B. nicht zu erwarten, dass zukünftige ERP-Systeme lediglich die Daten aus den digitalisierten und automatisierten Prozessen gewinnen und entsprechend analytisch aufbereiten. Es spricht dagegen sehr viel dafür, dass KI-gestützte Controllingmodule gleich die entsprechenden Vorschläge zur Reaktion bzw. dem weiteren Vorgehen liefern. Ab da ist es dann nur noch ein kurzer Weg bis die KI-Systeme in Teilbereichen sozusagen das Kommando direkt übernehmen und die Managemententscheidungen gleich selbst treffen und umsetzen. Dies ist auch vorstellbar, wenn menschliche Mitarbeiter involviert sind. So sind schon heute Modelle zur Selbststeuerung auf der Arbeitsebene im Einsatz, die den Mitarbeitern durch Hinweise („Nudges“) des Systems ermöglichen, die Effizienz zu steigern.
Bedeutet dies also das Ende des Managements wie wir es heute kennen? Ist also das Thema Management bei extrem hohem Automatisierungsgrad und nur noch wenigen fachkompetenten Spezialisten auf Arbeitsebene gar nicht mehr von Relevanz? Wird die Managementfunktion perspektivisch nur noch von einer kleinen Handvoll von Industriekapitänen ganz an der Spitze und mit Unterstützung einer mächtigen KI ausgeübt?
Für eine ganze Reihe von Organisationen insbesondere in der Industrie wird diese Frage wohl zu bejahen sein. Hier kommt man dem Ideal der „menschenleeren Fabrik“ in den nächsten Jahrzehnten immer näher. Und das nicht nur, weil alle Aufgaben in der Produktion durch Roboter ausgeführt werden, sondern insbesondere, weil eine KI auch in der Verwaltung praktisch alle Jobs, die auf festen Routinen beruhen, übernimmt.
Ausblick auf das Management des 21. Jahrhunderts
Aber ist das wirklich die ganze (vorweggenommene) Zukunft des Managements? Wahrscheinlich nicht, da man bei aller Technikbegeisterung auch feststellen muss, dass die sehr IT- und industrielastige Sichtweise nicht so recht zu einer Vielzahl von Organisationen passt, die in einer post-industriellen Welt einen viel größeren Anteil an der Wohlstandsgenerierung besitzen. Auch wenn in Ingenieurbüros, Werbeagenturen, Handwerksfirmen, Einzelhandelsgeschäften, Krankenhäusern, Theatern, Ministerien, Schulen und NGOs eine ganze Menge von Aufgaben an die Technik abgegeben werden kann, ein Bild wie die „menschenleere Fabrik“ wird sich hier vermutlich nie zeigen. Aber auch wenn man sich die eher betroffenen Industrien – insbesondere auf Ebene der einzelnen Jobs mit der Vielfältigkeit der Aufgaben – ansieht, ergibt sich kein so eindeutiges Bild.
Ohne in die Diskussion vertieft einsteigen zu können, kann man festhalten, dass in allen Industrien und Organisationen der Wegfall der Routinearbeiten und die erhebliche Verschiebung in Richtung hochwertigerer Arbeit mit einer sehr deutlichen Steigerung der Anforderungen an die (verbliebenen) Mitarbeiter verbunden ist. Das kann im Ergebnis nicht ohne Effekt auf das jeweilige Management bleiben. In einer Welt, in der es für die erfolgreiche Unternehmensführung sehr stark darauf ankommt, dass die Mitarbeiter alle Potentiale hinsichtlich Kreativität, Innovationsfähigkeit und auch emotionaler Intelligenz abrufen, rückt wieder der Mensch ins Zentrum des Interesses.
Oder ganz grob ausgedrückt: ganz ähnlich wie Anfang des 20. Jahrhunderts auf die „Erfinder“ des Managements Taylor und Ford die Managementtheoretiker Mayo und Drucker folgten, könnte sich heute wieder ein Gegentrend aufbauen. Der Fokussierung auf Technologie und Prozesse folgt dann eine Rückbesinnung auf die menschliche Komponente der Führung, so dass der fünfte Entwicklungsschritt in der Geschichte des Managements wieder auf die knappe Ressource Mensch fokussiert ist. Wie man einem so verstandenen Management des 21. Jahrhunderts näher kommen kann, dafür hat das Arbeitslabor einen ersten Vorschlag erarbeitet, in dem die Themen Komplexität, Resonanz, Vertrauen und Kommunikation die wesentlichen Ankerpunkte sind. Aber das ist eine andere Geschichte.
Comments